Premiere in Europa: Deutschsprachige Gemeinschaft in Ostbelgien richtet ständigen Bürgerdialog ein
Die Regierung der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien (DG) will die Bürger aktiv an der Politik beteiligen. Dazu wird ihnen ein Mitspracherecht eingeräumt, das sie in einer eigens dazu eingerichteten Bürgerplattform nutzen können. Dieser permanente Bürgerdialog soll neue Ideen liefern, aber auch eine Plattform für Kritik sein. Die Parteien im DG-Parlament beschlossen diesen Bürgerdialog am Montagabend.
Bürgerdialog ist das neue Schlüsselwort der Politik in der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Ostbelgien, ein vollwertiges belgisches Bundesland mit eigener Regierung, eigenem Ministerium und eigener Verwaltung. Dieser Bürgerdialog soll in Zukunft zur Regel werden, sprich Normalfall in dieser kleinen belgischen Demokratie. Zwei bis dreimal pro Jahr soll eine Bürgerversammlung Themen besprechen, die in diesem Moment akut sind, also sich in der allgemeinen Diskussion befinden.
Ein permanenter Bürgerrat soll die Themen festlegen, die die Mitglieder der Plattform besprechen sollen und ein ständiger Sekretär wird das alles koordinieren, wie DG-Parlamentspräsident Alexander Misen gegenüber dem deutschsprachigen Belgischen Rundfunk (BRF) dazu erklärte: „Der Dekretvorschlag sieht ausdrücklich vor, dass die Bürgerinnen und Bürger die Themen setzen. Als Parlamentsfraktion oder Regierung können wir zwar Vorschläge einbringen, aber letztendlich entscheiden die Bürgerinnen und Bürger selbst über das, worüber sie diskutieren möchten.“
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Konkret
Doch, die offizielle Politik zieht auch eine Grenze: Diskussionen können nur bis dahin geführt werden, wo die Zuständigkeiten der DG hinreichen. Laut Miesen hat es keinen Sinn sich mit Themen auseinanderzusetzen, für die die ostbelgische Regionalregierung gar nicht zuständig ist, z.B. über föderale Materien oder über Themen, die Sache der Wallonischen Region sind, zu der die DG weiterhin gehört. In diesem Bürgerrat sollen 24 Mitglieder sitzen. Dieser Rat setzt sich aus Mitgliedern der Bürgerversammlung zusammen, die aus 25 bis 50 Mitgliedern bestehen soll.
Diese Mitglieder werden nach einem Zufallsprinzip ausgewählt, haben aber das Recht, auf ihre Mitarbeit zu verzichten. Verpflichtet wird niemand, auf den das Los fällt… Interessant dabei ist, dass hier auch Jugendliche ab 16 Jahren teilnehmen können, sowie auch in Ostbelgien lebende Einwanderer.
Und, in diesen Gremien soll niemand sitzen, der auf irgendeine Weise politische oder private Interessen vertritt, so der BRF in seiner Meldung dazu. Parlamentspräsident Miesen wird dazu deutlich: „In den Bürgerversammlungen dürfen keine Mandatsträger tagen. So dürfen weder Regional- noch Lokalpolitiker in diesen Versammlungen sitzen. Darüber hinaus gibt es einige Kriterien, damit wir eine möglichst heterogene Gruppe zusammenstellen können: Alter, Geschlecht, Geographie und der sozio-ökonomische Hintergrund werden berücksichtigt.“
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Einzigartig in Europa, flämischer Berater
Bisher ist diese Form von aktiver Bürgerpartizipation in Europa einmalig, das unterstrichen alle Fraktionen im Parlament der DG in Eupen am Montagabend. Diese Ansicht vertrat auch der flämische Autor und Historiker David van Reybrouck („Kongo“, „Zink“, „Gegen Wahlen: Warum Abstimmen nicht demokratisch ist“). Van Reybrouck (Foto unten), der auch Mitbegründer der belgischen Bürger-Partizipations-Initiative G1000 ist, hatte die DG in dieser Frage beraten.
Die erste Sitzung des Bürgerrats soll am 16. September 2019 stattfinden, die bis zum Jahreswechsel eine erste Bürgerversammlung vorbereiten soll, die dann Anfang 2020 stattfinden könnte. Viele ostbelgische Bürger staunten nicht schlecht, als sie von den Plänen der DG-Regierung erfuhren, was zumeist durch die Medien geschah oder durch belgische Journalisten, die am Montag in der DG-Hauptstadt Eupen unterwegs waren. Manche von ihnen stellten sich schon die Frage, wieso ihre Regionalregierung eine Bürgerplattform initiiert, von der die Bürger nichts wussten. Und darüber staunten wiederum die Journalisten flämischer Tageszeitungen, wie De Morgen oder De Standaard, die in ihren Dienstagsausgaben prominent über dieses Thema berichteten.
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"Ostbelgien Modell"
Die DG arbeitete an diesem System mit insgesamt 13 Experten. Darunter waren auch Professoren aus Irland, Polen oder Australien, sowie auch die beiden führenden Kräfte hinter G1000, David van Reybrouck und Yves Dejaegere. Finanzielle Unterstützung kommt neben 140.000 € von der DG selbst auch von dem ungarisch-amerikanischen Geschäftsmann George Soros, bzw. von dessen „Open Society Initiative for Europa“, wie De Standaard dazu schreibt.
Ostbelgiens ehemaliger Ministerpräsident Karl-Heinz Lambertz, der heutige Vorsitzende des Ausschusses der Regionen in der EU, sagte dazu gegenüber der Tageszeitung De Standaard, dass seine Region einmal mehr „ein Labor für den Rest von Europa“ sein wolle.