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EU-Spitzenkandidaten debattieren: Weber versucht‘s mit Fingerspitzengefühl, Timmermans spitzt Grüne und Linke an

Im Vorfeld der Europawahlen im Mai haben die "Spitzenkandidaten" von sechs europäischen politischen Familien am gestrigen Mittwochabend eine lebhafte Debatte darüber geführt, in welche Richtung die Europäische Union die nächsten fünf Jahre gehen soll.

Die Ängste seien in ganz Europa die gleichen, betonte Weber. Er wolle sich deshalb für ein Europa nah an den Bürgern, für ein Europa der Menschen einsetzen, sagte der Spitzenkandidat der EVP, der Deutsche Manfred Weber, in seinem kurzen Eingangsstatement. Bürgernähe suchen auch die anderen politischen Familien und in mehreren Punkten waren sich die sechs Kandidaten mehr oder weniger einig. So plädieren alle Kandidaten für mehr Steuergerechtigkeit in der EU. Multinationals sollten sich ihrer Verantwortung nicht entziehen können. Der Spitzenkandidat der S&D, der Sozialdemokrat Frans Timmermans wandte sich gar mit einer rhetorischen Frage direkt an den Online-Versandhändler Amazon: „Amazon, wann zahlst Du Steuern?“, so Timmermans.

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Nicht alle Kandidaten sind auf der gleichen "Klimalinie"

Inhaltliche Unterschiede zeigten sich hingegen vor allem beim Thema Klima. Alle Kandidaten wollen sich, sollten sie nächste(r) Kommissionspräsident(in) werden, für das Klima einsetzen. Doch die grüne Ska Keller betonte, das die Zeit drängt. Klimaschädliche Subventionen müssten abgeschafft, eine grüne Wende vollzogen und damit neue Arbeitsplätze geschaffen werden. „Im Moment gehen diese Arbeitsplätze noch nach China“, so Keller weiter. Auch für Nico Cué, Spitzenkandidat für die Europäische Linke, müssten bei der Umweltpolitik nun endlich Taten folgen. Wenn man gegen den Steuerbetrug vorginge, durch den Milliarden und Abermilliarden verlorengingen, hätte man mehr Geld für den Klimaschutz, so Cué. Timmermans schlägt u.a. eine CO2-Steuer vor und der Tscheche Jan Zahradil von der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer setzt beim Umweltschutz auf neue Technologien. In Sachen Landwirtschaftspolitik schlägt er mehr umweltorientierte Subventionen vor und denkt dabei  u.a. an den Biolandbau.

Weniger Sympathie aus dem Publikum hatte Manfred Weber bei diesem Thema. Er und die EVP sind sich einig, dass die EU bis 2050 klimaneutral werden soll, aber Weber warnte vor unerschwinglichen Maßnahmen und Interventionen, die bestimmte Bevölkerungsgruppen, wie z.B. die Arbeitnehmer in der Automobilindustrie, hart treffen würden.

"Das sind nicht meine Worte, aber eine NGO nannte die EVP kürzlich eine Sammlung von Dinosauriern", sagte der sozialistische Spitzenkandidat Frans Timmermans mit spitzer Zunge. "Ich habe es satt, dass die sozial Schwächeren Gefahr laufen, Opfer unserer Klimapolitik zu werden.“ Je länger man warte, desto größer werde der Schaden sein. Die grüne Ska Keller wollte von Weber wissen, warum die EVP im Europäischen Parlament gegen ehrgeizigere Klimaziele gestimmt habe. Und Margrethe Vestager, die Kandidatin der Liberalen, wies Weber zurecht, als dieser die Politik des für Klimawandel zuständigen Europäischen Kommissars Miguel Arias Cañete von der EVP verteidigte. "Miguel hat eine gute Arbeit geleistet, weil er Mitglied der Kommission ist, nicht weil er bei der EVP ist", sagte Vestager, die für Wettbewerb zuständige Kommissarin.

Und beim Thema Migration?

Der in Spanien geborene und in Lüttich groß gewordene Belgier Nico Cué, selbst einst ein Migrant, hob den Mehrwert, den Migranten für die europäische Wirtschaft haben können, hervor. Er bezeichnete Webers Plädoyer für eine umfassende Lösung der Migrationsfrage als "skandalös".

Jan Zahradil von der Allianz der Konservativen und Reformer unterstrich bei fast jeder seiner Bemerkungen die Bedeutung der Nationalstaaten. Er sei nicht gegen die Europäische Union, sondern argumentiert, dass die europäische Ebene zu viel Gewicht bekommen habe, sich zu sehr in die Traditionen und Gewohnheiten der Bürger einmische. Unterschiedliche Arbeitslosenraten in den Mitgliedstaaten zeigten, dass einzelne Länder besser als Europa in der Lage seien, wirtschaftliche Probleme anzugehen und zum Beispiel Lösungen für Arbeitsmärkte zu finden, meint Zahradil. Doch Timmermans konterte: "Wäre die Tschechische Republik ohne die Hilfe der Europäischen Strukturfonds ebenso wohlhabend?“ Wohl kaum, gab Zahradil zu. Ohne die Strukturfonds wäre die Arbeitslosigkeit in Tschechien nicht so niedrig.

Eine ausgestreckte Hand

Der Sozialdemokrat Timmermans bewegte sich übrigens offen auf die Grünen von Ska Keller und auf diejenigen ganz links von Nico Cué zu. "Lasst uns in den nächsten Jahren zusammenarbeiten", sagte er beim Thema Klimapolitik. "Um auf diese Weise auch viele der liberalen Familie und andere zu überzeugen, von (dem linken griechischen Premierminister Alexis) Tsipras bis zu (dem französischen Präsidenten Emmanuel) Macron.

Zu Beginn des Tages hatte Udo Bullmann, der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Fraktion im scheidenden Europäischen Parlament, also ein Parteikollege von Timmermans, bereits einen ähnlichen Appell lanciert. Er betonte, dass nur Timmermans der neue Kommissionspräsident werden könne und dass es möglich sein müsse, eine progressive Mehrheit auf die Beine zu stellen. Auch Bullmann schien die Hand nach anderen Fraktionen auszustrecken und die EVP umgehen zu wollen.

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